„Medicare for All“ sorgt für Turbulenzen im US-Gesundheitssektor


von


Ute Heyward,
Senior Portfolio Manager

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Die positiven Gewinnveröffentlichungen im US-Gesundheitssektor werden zurzeit von einer lebhaften politischen Debatte über die Zukunft des gesamten Gesundheitssystems überschat- tet. Daher hatten Aktien aus dem US-Gesundheitssektor nach einer starken Performance im Jahr 2018 im bisherigen Jahresverlauf eine turbulente Zeit im Vergleich zum Gesamtmarkt. Die Volatilität im Sektor stieg im April deutlich an, als die Debatte hitziger wurde. Demzufolge fiel der S&P Healthcare Index am 17. April in den negativen Bereich, bevor er sich anschliessend wieder leicht auf +2.7% erholen konnte, während der S&P 500 auf neue Allzeithochs kletterte und seit Jahresbeginn ein Plus von 17.4% verzeichnete (beide Werte per 29.04.2019).

Grafik 1: Performance des S&P 500 ggü. dem S&P 500 Healthcare seit Jahresbeginn (per29.04.2019)

QuelleBloomberg

Im teuersten Gesundheitssystem sind rund 10% der Bevölkerung nicht versichert

Die USA haben unter den Industrieländern das teuerste Gesundheitssystem, wobei der Gesamtanteil der Gesundheitsausgaben am BIP 2017 bei 17.9% lag. Bei einer repräsentativeren Pro-Kopf-Betrachtung belaufen sich die Ausgaben der USA im Vergleich zu vielen europäischen Ländern mit USD 10'000 gegenüber rund USD 5'000 fast auf das Doppelte (siehe Grafik 2; die Summe enthält sowohl private als auch öffentliche Ausgaben). Durch den Affordable Care Act, auch „Obamacare“ genannt, gelang es, den Prozentsatz nicht versicherter Personen zu senken, aber 10% der Bevölkerung haben immer noch keine Krankenversicherung. Das ist ein grosses gesellschaftliches Problem, insbesondere wenn man berücksichtigt, wie hoch die Gesundheitskosten in den USA sind.

Grafik 2: Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheitsversorgung in US-Dollar, kaufkraftbereinigt, 2017

Quelle Peterson-Kaiser, KFF-Analyse der OECD und Daten zu den nationalen Gesundheitsausgaben (NHE)

Grafik 3: Prozentsatz der nicht versicherten Bevölkerung in den USA

Quelle Barclays, National Center for Health Statistics, August2018

Untersucht man die Kostentreiber innerhalb des US-Gesundheitssektors genauer, findet sich einer der Hauptgründe in den höheren Ausgaben für das übermässige Risiko von Rechtsstreitigkeiten, mit dem Ärtze in den USA konfrontiert sind. Demzufolge wäre es falsch, den Finger allein auf die Pharmaunternehmen als Ursache des Problems zu richten. Auch wenn es bei bestimmten Behandlungen grosse Preisanstiege gegeben hat, fliessen von jedem für Pharmazeutika ausgegebenen US-Dollar nur zwei Drittel an die Pharmaindustrie. Wie Grafik 4 zu entnehmen ist, setzt sich der Gesundheitssektor neben den Pharmaunternehmen aus vielen weiteren Branchen zusammen, die alle ihren Anteil an der relativ ineffizienten Wertschöpfungskette haben.

Grafik 4: Geschätzte Erlöse von Beteiligten der Lieferkette der US-Pharmaindustrie (Mrd. USD) –2016

Quelle Barclays, HealthAffairs

Mit den näherrückenden Präsidentschaftswahlen wird die Diskussion darüber, wie sich die Kosten senken und das aktuelle System verändern lassen, immer hitziger. Verschiedene Visionen zur Behebung der Missstände stehen im Raum, darunter Versionen der Republikaner und der Demokraten, aber offensichtlich gibt es noch keinen Konsens darüber, wie es weitergehen soll. Die Hauptpunkte der Diskussion sind:

  • Umfang: Universeller Versicherungsschutz für jeden oder optional (über Arbeitgeber oder privat)
  • Koordination: Ersetzen, Ergänzen oder Beibehalten der privaten/arbeitgeberbasierten Versicherung
  • Finanzierung: prämienbasiertoder kostenlos (über Steuern)
  • Regulierung: Zentrale Preisverhandlungen und/oder direkte Preisregulierung

Während die Republikaner sich auf eine wertbasierte Gesundheitsversorgung („value-based healthcare“)und Schutz für Menschen mit Vorerkrankungen fokussieren, setzen sich die Demokraten für die Idee von „Medicare for All“ein. Medicare ist ein nationales Krankenversicherungsprogramm, das Versicherungsschutz für Menschen ab 65 Jahren bietet. Jüngere Menschen mit bestimmten Behinderungen können ebenfalls durchMedicare abgesichert werden. Die Idee von „Medicare for All“ drängt darauf, den Schutz auf die breite Öffentlichkeit auszuweiten, die zurzeit mehrheitlich von arbeitgeberfinanzierten Gesundheitsplänen abgedeckt ist. Trotz der von den Demokraten verwendeten eingängigen Schlagwörter sind sie weit von einer Einigung darüber entfernt, wie „Medicare for All“in der Praxis im Einzelnen aussehen soll. Die verschiedenen Konzepte, die derzeit diskutiert werden, sind in der unten stehenden Grafik aufgeführt.










Grafik 5: Vorschläge für „Medicare for All“

QuelleVox-Analyse

Der vom Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders vorgelegte Gesetzesentwurf, der auch von verschiedenen weiteren Kandidaten der Demokraten befürwortet wird, wurde am breitesten diskutiert. Seine Vision ist eine steuerfinanzierte und universelle sogenannte „Single-payer“-Krankenversicherung, also eine Einheitskasse, die Versicherungsschutz für alle Amerikaner bietet. Sie würde die Rolle privater Krankenversicherungen stark beschneiden.

Konsequenzen für den Gesundheitssektor

Branchen, die unmittelbar von diesen Diskussionen betroffen sind, sind Krankenversicherungsgesellschaften und Krankenhausbetreiber. In zweiter Linie würden diese Reformen möglicherweise Druck auf Medizintechnik- und Biotechnologieunternehmen ausüben.

Krankenversicherungsgesellschaften
Krankenversicherungsgesellschaften verwalten Gesundheitsdienstleistungen für private und öffentliche Versicherungspläne. Wie aus dem Health Insurance Coverage Report des U.S. Census Bureau für 2017 hervorgeht, hatten 67% der US-Bevölkerung 2017 eine private Kranken-versicherung, einschliesslich arbeitgeberbasierter Policen (56% der Bevölkerung). Während der Staat das Versicherungsrisiko für die öffentlichen Pläne trägt (allen voran Medicare und Medicaid), bieten Krankenversicherungsgesellschaften für diese Pläne die Verwaltung und die Verhandlungen mit Anbietern an. Arbeitgeber wählen zwischen Versicherungsprodukten, bei denen das Risiko bei der Versicherungsgesellschaft liegt, oder sie entscheiden sich, das Risiko selbst zu tragen, und beauftragen die Versicherungsgesellschaft nur mit administrativen Dienstleistungen, wobei der Versicherer eine feste monatliche Gebühr pro Mitglied vereinnahmt.

Die Rolle der privaten und arbeitgeberbasierten Krankenversicherung im Rahmen von „Medicare for All“ist noch nicht klar. Der Finanzmarkt fokussiert zurzeit auf ein Szenario, bei dem private risikobasierte Krankenversicherungsgesellschaften sich mitunter darauf beschränken müssten, lediglich die Administration der Gesundheitsversorgung zu übernehmen, während der Staat zentral das Risiko tragen würde. Dies würde an den Margen der Versicherer nagen. Eine Analyse der operativen Margen nach Berichtssegmenten des Krankenversicherers Anthem zeigt die nachteiligen Auswirkungen, die dies auf den Sektor insgesamt haben könnte: Im ersten Quartal 2019 betrug die operative Marge des Bereichs Commercial & Specialty Business 16.9%, während sie im Bereich Government Business nur 2.6% betrug (Link zu den vollständigen Daten auf der Website von Anthem). Eine „Single-payer“-Lösung bedeutet nicht zwangsläufig, dass die private Krankenversicherung völlig verschwindet, aber sie wäre sicherlich auf Zusatzversicherungsprodukte beschränkt, die über den Rahmen der Grundversicherung hinaus gehen.

Krankenhäuser
Krankenhäuser bilden den zweiten Teilsektor, der von „Medicare for All“ direkt beeinträchtigt würde. Selbst im aktuellen System klafft eine grosse Lücke zwischen den Zahlungen privater Versicherer an Krankenhäuserund den Zahlungen von staatlich getragenen Plänen für dieselbe Leistung, wie aus der unten stehenden Grafik hervorgeht. Deshalb würden Erlöse und Margen von Krankenhäusernunter Druck geraten, wenn das rentablere Geschäft mit privaten Leistungsträgern wegfiele.

Grafik 6: Verhältnis von Zahlungen zu Kosten

QuelleThe New York Times, American Hospital Association

Auswirkungen auf Medizintechnik- und Pharmaunternehmen
Medizintechnikunternehmen würden unter nachgelagerten Auswirkungen leiden, da Krankenhäuser bei weitem die grösste Kundengruppe bilden. Pharmaunternehmen könnten unter den negativen Auswirkungen eines breiten politischen Konsens leiden: es herrscht nämlich weitgehend Einigkeit darüber, den Anstieg der Arzneimittelpreise zu bremsen. Beide Segmente sind zwar tendenziell geografisch breit diversifiziert, neigen aber auch dazu, internationale Märkte zulasten des US-Geschäfts zu subventionieren.

Unsere Einschätzung der Umsetzungswahrscheinlichkeit von „Medicare for All“

Wenngleich wir anerkennen, dass die Gesundheitsversorgung ein grosses gesellschaftliches Problem für die USA darstellt, so ist sie auch ein äusserst strittiges Thema, das Wähler mobilisieren kann. Aus unserer Sicht macht Bernie Sanders einen strategischen Schritt, indem er mit einem konkreten Vorschlag vorangeht. Das Mass an Aufmerksamkeit, das diesem Thema gewidmet wird, sagt jedoch nichts aus über die politische Machbarkeit einer Gesundheitsreform. Eine linkslastige Version von „Medicare for All“ würde auf erheblichen Widerstand im Kongress stossen. Selbst wenn es den Demokraten gelänge, die Kontrolle über das Weisse Haus und beide Kongresskammern zu erlangen, würde sich die Reform des Gesundheitswesens aus einer Reihe von Gründen als sehr schwierig erweisen.

Erstens mangelt es der Demokratischen Partei, wie bereits erwähnt, an einer einheitlichen Vision zur Konzeption und Finanzierung eines „Medicare for All“-Programms. Zweitens umfassen einige Vorschläge für Finanzierungsmassnahmen eine Erhöhung der Unternehmens- und Einkommenssteuern, was nach unserer Einschätzung unter Demokraten und Republikanern gleichermassen umstritten wäre.

Drittens sind wir der Meinung, dass jegliche erhebliche Kostensenkung das Risiko von Rechtsstreitigkeiten in der Branche berücksichtigen müsste, was letztendlich mit einer Reform des Schadenersatzrechts verbunden wäre ein Thema, das für eine weitere Spaltung der politischen Parteien sorgen würde. Trotz dieser erheblichen Hindernisse für „Medicare for All“ rechnen wir damit, dass dieses Thema einen hohen Stellenwert einnehmen wird, und wären daher nicht überrascht, wenn im Vorfeld der Präsidentschaftswahl anhaltende Volatilität zu beobachten wäre.

Wie wir uns bei Unternehmensanleihen positionieren

Unserer Meinung nach darf nicht vergessen werden, dass es noch 18 Monate bis zu den US-Präsidentschaftswahlen dauert. Bisher ist unklar, ob es überhaupt Änderungen an der Gesundheitspolitik geben wird. Doch angesichts unserer Erwartung höherer Volatilität vor den Wahlen konzentrieren wir uns darauf, einzuschätzen, ob die aktuellen Credit Spreads aus fundamentaler Sicht und unter dem Gesichtspunkt potenzieller negativer Schlagzeilen einen geeigneten Puffer bieten.

Derzeit sind wir bei Krankenversicherungen defensiv positioniert und meiden Emittenten aus dem High-Yield-Segment. Wir fühlen uns wohl mit unserer Übergewichtung in defensiven Pharmaunternehmen, die einen unterdurchschnittlichen Anteil ihrer Umsätze in den USA erwirtschaften und vielversprechende Produkt-Pipelines haben, meiden aber dennoch Titel, die möglicherweise für Akquisitionen ihre Verschuldung erhöhen würden. Bei den Krankenhäusern sind wir in einem einzelnen Emittenten übergewichtet, bei dem wir durch die Veräusserung von Vermögenswerten ein starkes Entschuldungsprofil erkennen, das noch vor den Wahlen umgesetzt sein sollte. Zu diesem Zeitpunkt planen wir gegebenenfalls eine Reduzierung der Position auf eine Untergewichtung. Schliesslich mögen wir weiterhin Medizintechnikunternehmen, bei denen wir günstige Bewertungen erkennen oder mit positiven fundamentalen Entwicklungen rechnen, die wiederum Potenzial für die Heraufstufung der Ratings bieten.

Ute Heyward,
Senior Portfolio Manager

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